Dieser Beitrag von Helge Franke wurde durch das Engagement des Verbandes der Osteopathen Deutschland e.V. (VOD) ermöglicht. Wir danken dem VOD, für die Erlaubnis diese Erwiderung auch auf der Website des ROD veröffentlichen zu dürfen. 
Dieser Beitrag erscheint ebenfalls in der Zeitschrift Osteopathische Medizin (OM), sowie in der Deutschen Zeitschrift für Osteopathie (DO).

Abwertung als Ziel


Über den Artikel „Die Scheinwirkung der Osteopathie“ von Edzard Ernst

Im Januar erschien in der Online-Ausgabe der Tageszeitung „Die Welt“ ein Beitrag von Edzard Ernst mit dem Titel „Die Scheinwirkung der Osteopathie“ (1)  Seine Ausführungen zur Osteopathie führen zu einer Fundamentalkritik. Er rät von der osteopathischen Behandlung ab, ihre Nutzen-Risiko-Bilanz sei nicht positiv, so schreibt er, eine Empfehlung demnach unangebracht. Für Therapeuten, für Patienten, für osteopathisch Interessierte können sich seine Argumente durchaus schlüssig anhören. Zumal er von der „Welt“ „als einer der einflussreichsten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Alternativmedizin“ vorgestellt wird. Das wiegt zusätzlich und macht Eindruck. Doch was bleibt von seinen Argumenten, wenn seine Ausführungen genauer untersucht und im Kontext der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur zur Osteopathie betrachtet werden? Widmen wir uns für einen Moment dieser Frage.

Ernst zitiert eine osteopathische Übersichtsstudie (2), die 2005 zu positiven Ergebnissen bei der osteopathischen Behandlung von Rückenschmerzen kam, um dann auf eine unabhängige Überprüfung (3) zu verweisen, die ergab, dass es keinen zwingenden Beleg für die Wirksamkeit der Osteopathie bei der Behandlung von Schmerzen im Bewegungsapparat gibt. Bei der „Überprüfung“ aus dem Jahr 2011 wurden hinsichtlich des Rückenschmerzes 5 Studien begutachtet, die Übersicht war klein und beinhaltete nur einen Teil der verfügbaren Arbeiten. 2014 erschien hingegen eine Übersichtsarbeit (4) mit 15 (!) klinischen Studien zur osteopathischen Behandlung von unspezifischen Rückenschmerzen. Die Übersichtsarbeit kommt zu dem Ergebnis, dass die osteopathische Behandlung den Schmerz- und funktionellen Status bei akuten und chronischen Rückenschmerzen, bei chronischen Rückenschmerzen, bei Rückenschmerzen von Schwangeren und bei Frauen nach der Geburt verbessert. 2017 bestätigte eine Übersichtsarbeit (5)  mit 8 klinischen Studien die Ergebnisse zu schwangerschaftsbezogenen Beckengürtel- und Rückenschmerzen bei Frauen. Eine weitere systematische Übersichtsarbeit (6) aus 2020 bestätigt die Wirksamkeit der Osteopathie bei chronischen, nicht tumorösen Schmerzen. Ernst erwähnt diese Studien nicht!
Ernst verweist auf eine aktuelle Übersichtsstudie (7), die schlussfolgert, dass die Wirksamkeit der Osteopathie im pädiatrischen Bereich nach wie vor unbewiesen ist. Die Übersichtsstudie basiert auf 13 klinischen Studien. Ebenfalls 2022 erschien die bisher größte systematische Übersichtsarbeit zur  osteopathischen Behandlung von Kindern (8). Dieses Review stützt sich auf 47 (!) randomisiert kontrollierte Studien und gibt ein weitaus differenzierteres Bild. Demnach kommen 23 klinische Studien zu einem statistisch signifikanten Ergebnis zugunsten der Osteopathie und 14 zu einem Vorteil der Osteopathie im Vergleich zur Kontrollgruppe, der aber nicht statistisch signifikant ist. In nur einer Studie von 47 schneidet die Kontrollgruppe besser ab als die, die eine osteopathische Behandlung erhalten hat. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Belege für die Wirksamkeit der Osteopathie im Bereich der Pädiatrie vorhanden seien, es aber weitere Studien brauche, um die Ergebnisse zu reproduzieren und abzusichern. Eine Übersichtsarbeit von 2019 (9), die 18 osteopathische Studien im pädiatrischen Bereich untersuchte, kommt in etwa zu den gleichen Schlussfolgerungen. Auch diese Studien erwähnt Ernst nicht!

Ernst wirft den Osteopathen vor, weitgehende Heilversprechen zu machen. So habe eine Auswahl von 100 zufällig ausgewählten Internetseiten von Osteopathen ergeben, dass 93% mindestens ein Kriterium der Pseudowissenschaft erfüllten (10). Bei näherer Betrachtung dieser privaten Untersuchung zeigt sich, dass das Kriterium der Pseudowissenschaft bereits erfüllt ist, wenn
  1. behauptet wird, die Osteopathie fördere die Selbstheilungskräfte des Körpers oder
  2. craniale Osteopathie praktiziert wird oder
  3. mit Osteopathie Beschwerden behandelt werden, die nicht zum muskuloskelettalen Bereich gehören oder
  4. ein Osteopath ein weiteres komplementärmedizinisches Verfahren anwendet.
Nun basiert jedes naturheilkundliche Verfahren auf dem Versuch, die Selbstheilungskräfte des erkrankten Menschen zu aktivieren (11). Dies per se als pseudowissenschaftlich zu diskreditieren, verkennt, dass auch schulmedizinische Verfahren, z.B. die Chirurgie, nach Operationen auf körpereigene Reparaturmechanismen für einen therapeutischen Erfolg angewiesen sind. Dogmatische Abwertungen zwischen Schul- und Komplementärmedizin sollten der Vergangenheit angehören, dieses Blockdenken dient nur selten dem Patienten und dem Therapieerfolg. Dass eine ganz andere Sichtweise zum Nutzen der Patienten in der Praxis möglich ist, belegt eine aktuelle Übersichtsstudie (12) zur osteopathischen Nachbehandlung von Herzoperationen. In dieser zeigen 4 klinische Studien, dass die Osteopathie in „Ergänzung zu den derzeitigen medizinischen Therapien hilfreich sein (kann), um postoperative Schmerzen zu lindern und den Funktionsstatus des Patienten insgesamt zu verbessern.“ Dass eine evidenz-basierte Betrachtungsweise einen hohen Stellenwert im therapeutischen Vorgehen hat, zeigen gleich mehrere Befragungen (13-16)  von Osteopathen aus verschiedenen Ländern.

Leider verwechselt Ernst auch die Bedeutung eines Behandlungsangebotes mit einem Heilungsversprechen. Heilungsversprechen sind – zumindest in Deutschland – den Therapeuten, gleich welcher Richtung, nicht erlaubt. Ein Behandlungsangebot ist der Versuch, die Symptome einer Erkrankung zu verbessern und kein Versprechen auf Heilung.

Ernst kritisiert die mangelnde Forschungstätigkeit der Osteopathen und verweist darauf, dass in der größten medizinischen Datenbank Medline für 2021 nur 127 Arbeiten verzeichnet sind. Nun wäre es sicher wünschenswert, wenn Osteopathen ihre Forschungsanstrengungen steigern würden. Medline ist jedoch nicht die geeignete Benchmark für den Beleg einer Forschungstätigkeit. Von 7 regelmäßig erscheinenden osteopathischen Fachzeitschriften wird nur eine in Medline gelistet. In der osteopathischen Datenbank „OSTLIB“ finden sich für 2021 350 Beiträge (17), für 2022 sind es über 440 (18).

Ernst behauptet, dass Osteopathen Verfahren verwenden, „von denen viele dem Repertoire der Physiotherapie entlehnt sind, zum Beispiel Bewegungstherapie, Elektrotherapie, Wärme- und Kälteanwendungen. Ihre Markenzeichen sind jedoch manuelle Wirbelsäulenmanipulationen und Mobilisationen“. Aus Sicht der Osteopathen werden der Osteopathie etwa 40 verschiedene Behandlungstechniken zugeordnet (19). Bewegungstherapie, Elektrotherapie, Wärme- und Kältetechniken gehören nicht dazu. Osteopathie ist keine modifizierte Physiotherapie. Wichtige und häufig angewandte Techniken (Muscle Energy Technique, Balanced Ligamentous Tension, Chapman Reflex, Strain and Counterstrain, Functional Method usw.) wurden von Osteopathen entwickelt und werden mitunter von Physiotherapeuten angewendet. Manipulationstechniken gehören zwar zur Osteopathie, sind jedoch nur eine von etwa 40 Behandlungstechniken (im Gegensatz zur Chiropraktik). In einer Untersuchung (20) zu den Techniken, die amerikanische Osteopathen bei der Behandlung der Wirbelsäule und des Sakrums immer oder häufig einsetzen, werden Manipulationstechniken an 9. Stelle aufgeführt.  Auf den ersten 8 Plätzen finden sich allesamt weiche und sanfte Techniken. Eine andere Studie (21) kommt zu dem Ergebnis, dass etwas mehr als ein Drittel der amerikanischen Osteopathen Manipulationstechniken einsetzen.

Ernst schreibt, dass unerwünschte Wirkungen nach osteopathischen Behandlungen … mit einiger Regelmäßigkeit beobachtet“ würden. Nach Wirbelsäulenmanipulationen würden etwa 50 Prozent aller Patienten über Nebenwirkungen berichten. Einen Beleg liefert er für seine Behauptung nicht. Auch unterscheidet er nicht zwischen leichten und ernsten Nebenwirkungen, obwohl es auch in der Schulmedizin einen großen Unterschied macht, ob ein Patient nach einer Injektion einen Juckreiz oder leichten Schmerz verspürt oder einen anaphylaktischen Schock erleidet. In einer Studie (22) kam es bei 1847 osteopathischen Behandlungen in 45 Fällen zu Nebenwirkungen. Die häufigsten Symptome waren Schmerzen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Muskelkater und Müdigkeit. Zu ernsten Nebenwirkungen kam es nicht. Die Studie folgert, dass Nebenwirkungen in der Osteopathie seltener vorkommen als bei anderen Richtungen der manuellen Medizin. Eine aktuelle Übersichtsstudie (23) von 12 Übersichtstudien mit insgesamt 55 klinischen Studien und 3740 Teilnehmern folgert, dass keine ernsten Nebenwirkungen bei den osteopathischen Behandlungen festgestellt wurden und die Osteopathie als sicher betrachtet werden kann.
 
Obwohl viele Studien auf positive Wirkungen der osteopathischen Behandlung verweisen, gibt es insgesamt zu wenige Studien, um diese Ergebnisse auf einem hohen Niveau absichern zu können. Osteopathen stehen im wissenschaftlichen Bereich daher vor der großen Herausforderung, Forschungsstrukturen und Finanzierungsmöglichkeiten zu schaffen, die in einem überschaubaren Zeitrahmen die ausstehenden Studien ermöglichen. Der Transformationsprozess innerhalb der Osteopathie, eine 130 Jahre alte, traditionelle Sichtweise an eine evidenz-basierte anzupassen, hat mit allen Schwierigkeiten, die diese Entwicklung beinhaltet, begonnen und ist keineswegs abgeschlossen. Es gibt eine ganze Reihe von osteopathischen Konzepten, die der Veränderung unterliegen. Forschung ändert das Verständnis von Krankheit, Gesundheit und Therapie. Das ist ein Prozess, dem sich Osteopathen nicht entziehen können. Eine differenzierte Diskussion über den Stand der Osteopathie, ihre Stärken und Schwächen unterscheidet sich jedoch deutlich von Ernsts Ausführungen. Ernst setzt in seinem Artikel seine 20 Jahre dauernde Abwertung der Osteopathie fort. Hinsichtlich der Wirksamkeit lässt er Studien, die für die Osteopathie sprechen, unberücksichtigt, bei den Nebenwirkungen argumentiert er gänzlich ohne Belege, spekuliert und ergeht sich in Vermutungen. Das kann nicht überzeugen. Das Bild, das er von der osteopathischen Praxis zeichnet, entspricht nicht korrekt den alltäglichen osteopathischen Behandlungen. Osteopathie ist weder Physiotherapie noch physikalische Medizin noch Chiropraktik. Und auch dies ist wichtig: Osteopathen geben keine Heilversprechen und ein Mangel an Studien ist kein Beleg für einen Mangel an Wirksamkeit. Will man unbedingt eine Scheinwirkung der Osteopathie postulieren, braucht es Studien, die genau diese Frage untersucht und dafür Belege gefunden haben. Diese Belege sollte man in ausreichender Zahl vorlegen und sie sollten wissenschaftlichen Kriterien genügen. Genau dies bleibt Ernst in seinen abwertenden Ausführungen schuldig.

Helge Franke
INIOST
Institut für osteopathische Studien
 
 
Literatur:
  1. Ernst E. Die Scheinwirkung der Osteopathie. Die Welt+. 2023;abgerufen am 09.01.2023 https://www.welt.de/gesundheit/plus242955797/Alternativmedizin-Warum-Osteopathie-nicht-haelt-was-sie-verspricht.html.
  2. Licciardone JC, Brimhall AK, King LN. Osteopathic manipulative treatment for low back pain: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. BMC Musculoskeletal Disorders. 2005;6:43.
  3. Posadzki P, Ernst E. Osteopathy for musculoskeletal pain patients: a systematic review of randomized controlled trials. Clinical Rheumatology. 2011;30(2):285-91.
  4. Franke H, Franke JD, Fryer G. Osteopathic manipulative treatment for nonspecific low back pain: a systematic review and meta-analysis. BMC Musculoskeletal Disorders. 2014;15:286.
  5. Franke H, Franke JD, Belz S, Fryer G. Osteopathic manipulative treatment for low back and pelvic girdle pain during and after pregnancy: A systematic review and meta-analysis. Journal of Bodywork and Movement Therapies. 2017;21(4):752-62.
  6. Rehman Y, Ferguson H, Bozek A, Blair J, Allison A, Johnston R. Osteopathic Manual Treatment for Pain Severity, Functional Improvement, and Return to Work in Patients With Chronic Pain. The Journal of the American Osteopathic Association. 2020;120(12):888-906.
  7. Posadzki P, Kyaw BM, Dziedzic A, Ernst E. Osteopathic Manipulative Treatment for Pediatric Conditions: An Update of Systematic Review and Meta-Analysis. Journal of Clinical Medicine. 2022;11(15):4455.
  8. Franke H, Franke JD, Fryer G. Effectiveness of osteopathic manipulative treatment for pediatric conditions: A systematic review. Journal of Bodywork and Movement Therapies. 2022;31(online 2022/03/23):113-33.
  9. Parnell Prevost C, Gleberzon B, Carleo B, Anderson K, Cark M, Pohlman KA. Manual therapy for the pediatric population: a systematic review. BMC Complementary and Alternative Medicine. 2019;19(1):60.
  10. Osteopathy Part 2 – a review of 100 Osteopathy websites. (https://appletzara.wordpress.com/2016/04/24/osteopathy-part-2-a-review-of-100-osteopathy-websites/).
  11. Wikipedia - Naturheilkunde. 2023;abgerufen am 20.02.2023. https://de.wikipedia.org/wiki/Naturheilkunde.
  12. Rorris F, Skouteli ET, Papakonstantinou K, Kokotsaki L, Skotiniotis E, Kokotsakis J. Osteopathic manipulative treatment in cardiac surgery patients: A systematic review. International Journal of Osteopathic Medicine. 2022;46:29-35.
  13. Clifford A, Segal A, Guterres A, Orrock PJ. An exploration of the clinical reasoning used by registered osteopaths in their choice of therapeutic approach. International Journal of Osteopathic Medicine. 2022;46:19-28.
  14. Leach MJ, Shaw R, Austin P, Fryer G, Thomson OP, Adams J, et al. Attitudes, skills, and use of evidence-based practice: a cross-sectional survey of Swedish osteopaths. International Journal of Osteopathic Medicine. 2020;38:41-9.
  15. Leach MJ, Sundberg T, Fryer G, Austin P, Thomson OP, Adams J. An investigation of Australian osteopaths’ attitudes, skills and utilisation of evidence-based practice: a national cross-sectional survey. BMC Health Services Research. 2019;19(1):498.
  16. Sundberg T, Leach MJ, Thomson OP, Austin P, Fryer G, Adams J. Attitudes, skills and use of evidence-based practice among UK osteopaths: a national cross-sectional survey. BMC Musculoskeletal Disorders. 2018;19(1):439.
  17. Ostlib-Recherche-2021. 2023(abgerufen am 20.03.2023 https://www.ostlib.de/single).
  18. Ostlib-Recherche 2022. 2023(abgerufen am 20.03.2023 https://www.ostlib.de/single).
  19. Principles ECoO. Glossary of Osteopathic Terminology. American Association of Colleges of Osteopathic Medicine. 2017:64.
  20. Fryer G, Morse CM, Johnson JC. Spinal and sacroiliac assessment and treatment techniques used by osteopathic physicians in the United States. Osteopathic Medicine and Primary Care. 2009;3.
  21. Johnson S, Kurtz M. Osteopathic manipulative treatment techniques preferred by contemporary osteopathic physicians. Journal of Osteopathic Medicine. 2003;103(5):219-24.
  22. Degenhardt BF, Johnson JC, Brooks WJ, Norman L. Characterizing Adverse Events Reported After Osteopathic Manipulative Treatment. The Journal of the American Osteopathic Association. 2018;118(3):141-9.
  23. Bagagiolo D, Rosa D, Borrelli F. Efficacy and safety of osteopathic manipulative treatment: an overview of systematic reviews. BMJ Open. 2022;12(4):e053468.

 
 https://www.welt.de/gesundheit/plus242955797/Osteopathie-Warum-die-Therapie-nicht-haelt-was-sie-verspricht.html
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